Eindrücke und Gedankengänge nach der ersten und zweiten psychohistorischen Trialog-Konferenz 2015, 2017
Zusammenfassung / Abstract
Es werden die beiden gruppenanalytischen Konferenzen von 2015 und 2017 beschrieben, an denen überwiegend psychotherapeutisch tätige Ärzte/Ärztinnen und Psycholog/innen aus der Ukraine, aus Russland und aus Deutschland teilnahmen, um ihr gegenseitiges Interesse sowie ihre aktuellen Konflikte und Erinnerungen vor dem Hintergrund einer gemeinsamen sehr wechselvollen Geschichte aus Liebe und Hass sowie gleichgültiger Destruktion zu reflektieren. Wenn Interaktion Erfahrung generiert, ermöglicht das Sprechen in geleiteten Klein- und Großgruppen unerwartete Begegnungen und Einsichten. Theoretische Überlegungen über einen Friedens- und Kriegsmodus werden vom Autor vorgestellt und mit dem Konzept der Soldatenmatrix (Friedman, 2018) in Verbindung gebracht. Erfahrungsberichte von Konferenzteilnehmenden verdeutlichen die Komplexität und Tiefe der Gefühle und die Aktivierung von Wissen.
Gruppenpsychother. Gruppendynamik 55/2019, 118-127
Schlagwörter: Gruppenanalyse – kultureller Austausch – Soldatenmatrix – Kriegsmodus – Friedensmodus
Impressions and Reflections Following the First and Second Psychohistorical Trialog-Conference 2015, 2017. The two group-analytic conferences of 2015 and 2017 are described, in which predominantly psychotherapeutically active doctors and psychologists from Ukraine, Russia and Germany took part, in order to reflect upon their mutual interests as well as their current conflicts and memories against the background of a common very eventful history of love and hate as well as indifferent destruction. When interaction generates experience, speaking in guided small and large groups enables unexpected encounters and insights. Theoretical considerations about a peace mode are presented by the author and associated with the concept of the soldier matrix (Friedman, 2018). Reports from conference participants illustrate the complexity and depth of feelings and the activation of knowledge.
Keywords: Group analysis, cultural exchange, Soldiers matrix, war mode, peace mode
„Dumbledore fuhr fort: ‚Ziel des Trimagischen Turniers war es, das gegenseitige Verständnis unter den Magiern verschiedener Länder zu fördern. Im Lichte dessen, was geschehen ist – der Rückkehr Lord Voldemorts –, sind partnerschaftliche Bande wichtiger denn je.‘“
(Rowling, 2000, S. 755)
1 Einführung
In diesem Beitrag werde ich das Projekt der psychohistorischen Trialog-Konferenzen 2015 und 2017 beschreiben. Dabei kommen gruppenanalytische, theoretisch-methodische Überlegungen zur Darstellung wie auch direkte kurze Erlebnisberichte von Teilnehmenden. Einige Informationen werden zu den historischen Hintergründen deutlich. Und die Frage steht im Raum: Gibt es denn nach über 70 Jahren noch ein Interesse an Themen der Großeltern? Was hat das mit der Gegenwart zu tun? Wenn es einen Zusammenhang gibt, was können wir da tun?
2 Außensicht
Es trafen sich überwiegend psychotherapeutisch tätige Ärzte/Ärztinnen und Psycholog/innen aus der Ukraine, aus Russland, aus Deutschland und am Thema Interessierte, um ihr gegenseitiges Interesse sowie ihre aktuellen Konflikte und Erinnerungen vor dem Hintergrund einer gemeinsamen sehr wechselvollen Geschichte aus Liebe und Hass sowie gleichgültiger Destruktion auszutauschen. Jeweils begleitet bzw. analytisch geleitet von Gruppenanalytikern aus Deutschland, Russland und der Ukraine und Dolmetschern fanden die Gespräche in drei Kleingruppen und einer täglichen Großgruppe statt. Jede Kleingruppe wurde wissenschaftlich von je zwei außerhalb des Stuhlkreises sitzenden Personen, teilnehmenden Beobachtern, begleitet. Ein gruppenanalytisches Institut (BIG e. V.) und eine Brandenburger psychotherapeutische Fachgesellschaft (BGPPmP e. V.= Brandenburgische Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie) stellten den organisatorischen Rahmen. Unterstützung erhielt die psychohistorische, internationale und gruppenanalytische Konferenz von der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse (D3G), der Fachgesellschaft der Jungschen Psychoanalytiker (DGAP), der Russischen Fachgesellschaft der Analytischen Psychologen (RAAP) und der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie (IAAP). Beide Konferenzen fanden in einem am Stadtrand von Potsdam gelegenen Hotel statt.
Insgesamt waren wir 63 (2015) und 42 (2017) Beteiligte, die, gleich in welcher Rolle und Funktion, aus den genannten Ländern kamen. Es versprach aus den verschiedensten Gründen intensiv zu werden.
3 Wunsch und Widerstand – Innensicht
Schon zu Beginn war deutlich geworden, dass es nach der erfolgreichen ersten Trialog-Konferenz im Mai 2015 (Alder u. Buchholz, 2017) mit dem eindeutigen Wunsch nach einer Folgekonferenz – etwa ein Jahr war vergangen –, erheblichen Widerstand gegen die zweite gruppenanalytische Trialog-Konferenz gab. Von deutscher Seite wurden Vorbehalte geäußert, weil man während eines aktuellen Krieges nicht reden könne. Und überhaupt sei das Thema entweder zu weit weg vom Kreis der Aufmerksamkeit oder es sei zu heiß, weil so viele Traumatisierungen damit verbunden seien. Aus Kiew hatte ein Kollege zu einem anderen gesagt, dass diese Gespräche für ihn Verrat an der Unabhängigkeitsidee der Ukraine seien. Man könne nicht während eines seit zwei, inzwischen vier, Jahren andauernden Krieges in der Ostukraine zu einem „trialogischen Dialog“ fahren. Es sei nicht akzeptabel, weil man dort in Potsdam mit den Feinden, den Russen, rede. Er und sie waren, wie andere auch, trotzdem gekommen, weil sie sich nicht für oder gegen etwas positionieren wollten, sondern das Gespräch über viele Fragen suchten. Auch auf russischer Seite wurde mir im August 2017, während ich eine psychotherapeutische Tagung mit vielen Vorträgen, Workshops und Supervisionssitzungen in der Einmillionenstadt Perm (Uralgebiet, Russland) besuchte, klargemacht, dass ich doch lieber nicht von dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine oder gar mit Deutschland sprechen möge. Mein Eindruck war, dass auf diese Weise das Fühlen und Denken von Hass, auch Scham, Angst und Schmerz vermieden und somit vom bewussten Nachdenken abgetrennt wurden. Die einen sind eben die Guten, die anderen eher nicht. Wer hier wer ist, schien mir stark zu wechseln. Hier wurde nicht nur mir in den geführten Gesprächen deutlich, wie wir Bürger dieser Länder einschließlich uns Psychotherapeuten zwischen einem „Kriegsmodus“ und einem „Friedensmodus“ wählen konnten. Oder werden wir durch die Umstände, das wirksame Klima der Großgruppe (Volkan, 2015), dazu geführt?
4 Kriegs- und Friedensmodus
Die beiden im Gruppenprozess gefundenen Begriffe möchte ich erläutern. Im Kriegsmodus gibt es nur Freunde oder Feinde; der Andere, der die dritte Position sucht, wird zum Verräter, also auch ein Feind. Schnell werden die vermeintlichen Freunde idealisiert und die Feinde entmenschlicht und dämonisiert. Die dritte Position kann nicht mehr gedacht werden – oder eben als Verratende. Es zeigt sich ein Schwarz-Weiß-Denken, ein Freund-Feind-Schema. Im Friedensmodus gibt es mindestens drei Positionen, es gibt Interesse und Empathie für den anderen und für sich selbst, es gibt die Offenheit für andere Vorstellungen und die Kapazität für Ambivalenz. Vorstellungen vom Anderen und von sich selbst bleiben vom Menschsein geprägt. Das Böse im Anderen wird im Friedensmodus auch als böse, destruktiv, den anderen ausschließend in der eigenen Person, in der eigenen Psyche gedacht. Den Friedensmodus möchte ich um eine Dynamik erweitern. Mit dieser Dynamik ist die Möglichkeit gemeint, zwischen Feindseligkeit und Kooperation zu wechseln, darüber nachzudenken und in der Regel zur Kooperation zurückzukehren. Anders im Kriegsmodus. Hier wird der Wechsel zu Kooperation mit den Anderen als Ausnahme erlebt. Diese Zustände, die Gruppen, Klein- und vor allem Großgruppen bis hin zu Gesellschaften charakterisieren, prägen jeden einzelnen, der dazu gehört. Er und sie prägen und sind ein Teil dieses Gruppenzustandes, der vom Begründer der Gruppenanalyse, Siegmund Heinrich Foulkes, Matrix genannt wurde.
5 Gruppenanalytische Überlegungen
Gruppenanalytisch lässt sich in diesem Zusammenhang das Konzept der Matrix (Foulkes, 1992) als ein verbindendes Beziehungs- und Bedeutungsnetz heranziehen.
Die gruppen- und psychoanalytische Arbeit in Gruppen ist von der Annahme geleitet, dass es Unbewusstes gibt, was wie durch eine Matrix Gruppenmitglieder miteinander verbindet. Nach Siegmund H. Foulkes (1964/2007, S. 33) „[ist] [d]ie Matrix das hypothetische Gewebe von Kommunikation und Beziehung in einer gegebenen Gruppe. Sie ist die Basis die letzten Endes Sinn und Bedeutung aller Ereignisse bestimmt und auf die alle Kommunikationen, ob verbal oder nicht verbal, zurückgehen.“
Robi Friedman, ein klinischer Psychologe und Gruppenanalytiker aus Haifa (Israel), schlug den Begriff der Soldatenmatrix (Friedman, 2018) für eine Gesellschaft vor, in der das kriegerische Element bzw. alles für den Krieg Notwendige alle Bereiche des Lebens prägt. Die Propaganda ist vom Kriegsmodus, wie ich ihn oben beschrieben habe, bestimmt. Das Konzept der Soldatenmatrix ist hilfreich, um den enormen Einfluss kriegerischer Rahmenbedingungen auf die darin lebenden Menschen zu verstehen. Inwieweit das eine Bedeutung für unsere Begegnungen hatte, sollte uns beschäftigen. Man könnte sagen, dass eine Gesellschaft oder eine Großgruppe, auch wenn das nicht deckungsgleich ist, sich im Sinne einer Soldatenmatrix versteht und dabei im Kriegsmodus ist. Ich unterscheide demnach zwischen dem Zustand der Matrix, die qualitativ als Soldatenmatrix oder Anti-Soldatenmatrix (Friedman, 2018) erscheint, aber in einer Haltung des friedlichen, also kooperativen, kommunikationsfreudigen Miteinanders erscheint, in diesem Sinne im Friedensmodus den einzelnen oder einer anderen Gruppe gegenüber erscheint. Damit kann ich meinen Eindruck während der Trialog-Konferenzen beschreiben: Eine Großgruppe, die von der Soldatenmatrix geprägt ist, befindet sich im Friedensmodus. Diese Beschreibung drückt für mich die Stimmung während der Trialog-Konferenzen aus. Alternativ lässt sich der Gedanke formulieren, dass die Tagungen im Gegensatz zur Soldatenmatrix in einer zivilen Matrix waren, auch in einem Friedensmodus, und Angst vor dem Kippen in einen Kriegsmodus hatten, in dem sich die Teilgruppen (Subgruppen) der Russen, Ukrainer oder Deutschen feindselig und unversöhnlich gegenüber saßen. Beide Beurteilungen lassen die gefundenen Themen und die späteren Zeugnisse von besonderen Begegnungen in unterschiedlichem Licht erscheinen, um die Inhalte und Stimmungen metaphorisch auszudrücken.
In den Klein- und Großgruppen der Trialog-Konferenzen wurden viele Themen angesprochen und miteinander in Beziehung gesetzt. Mehrere Fragenkomplexe durchzogen den Tagungsverlauf. Der erste beschäftigte uns als Staff: Welches ist die zentrale Aufgabe für unseren Kongress?
6 Die zentrale Aufgabe – Außensicht
Diese zentrale Aufgabe wurde vom Staff und mir als Leiter der Veranstaltung nur allgemein formuliert: „Wir untersuchen die psychohistorischen und aktuellen Themen, wobei alle Teilnehmenden eingeladen sind, sich in der Großgruppe und in den Kleingruppen dazu auszutauschen“. Die zentrale Aufgabe wurde bewusst allgemein gehalten. Jede Konkretisierung hätte die Wirkung einer willkürlichen Einengung und unnötigen Engführung gehabt. Es gab auch das Argument, den einzelnen und der Gruppe zu vertrauen. Am Ende des zweiten Tages, der Halbzeit, schälten sich folgende Themen heraus:
1. Der zweite Weltkrieg mit seinen Folgeerscheinungen in der Gegenwart.
2. Das deutsche Ost-West Spannungsverhältnis und seine Auswirkungen.
3. Der Krieg in der Ostukraine bzw. die ukrainisch-russische Auseinandersetzung und ihre Folgen.
4. Die Umbrüche der 90er Jahre: der Fall der innerdeutschen Mauer, der Wegfall der Spaltung Europas, zum Teil der Welt. Gemeint ist der Konflikt zwischen den Staaten des Warschauer Vertrages und der NATO, das Ende der Sowjetunion, die Bildung der neuen unabhängigen Staaten und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.
5. Die politischen Veränderungen in Europa zu mehr sich zurückziehenden, sich gegen die globalisierende Öffnung richtenden, rechtsextremen, nationalistischen, antidemokratischen und fremdenfeindlichen Parteien.
6. All das, was nach dem Zusammenbruch der UdSSR in der Ukraine und in Russland geschah, ebenso in der Bundesrepublik Deutschland.
7. Bedeutung der Generationen, transgenerative Weitergabe von Heldentaten und Traumatisierungen (Volkan, 2000, 2015).
8. Die eigene und innere Sprache zu finden ist möglich, weil andere zuhören und das Gesagte und Gehörte kommentieren, so auch bezeugen. Die Dolmetscher, weil sie selbst nicht von sich sprechen dürfen, halten die in den zu übersetzenden Redebeiträgen enthaltenen Gefühle und Gedanken in sich. Die Dolmetscher wirken wie ein Resonanzbehälter, der vieles aushalten muss. Die Möglichkeit als Mitglieder der Staffgruppe auch von sich zu sprechen und nicht nur zu dolmetschen, ist von großer Bedeutung für den Gruppenprozess während der Tagung. Die Beziehungen der Dolmetscher untereinander spiegeln wie auch die Beziehungen der Gruppenleiterpaare die relevanten Themen.
9. Die Suche nach einem Destillat aus den Kriegen, führte zu Verzweiflung, dem Annähern an das Unfassbare des Traumatischen und der metaphorischen Vorstellung einer von Blut getränkten Erde. Was ist die Konsequenz?
10. Persönliche Geschichten werden von anderen, von uns, während der Konferenz in den Gruppen, gut getragen.
11. Aus Hass, Liebe und Traumatisierungen wird immer wieder das Destruktive, seelisch Tötende, metaphorisch bzw. symbolisch ausgedrückt das Vergiftete und weiter Vergiftende gefunden. Wenn das Giftige im Miteinander des Gruppenprozesses identifiziert und isoliert werden kann, wird mit der richtigen Dosis das Gift zum Heilmittel.
12. Entweder gibt es die Gruppe in ihrer Matrix im Kriegsmodus oder Friedensmodus – oder kann das wechseln, was jeweils als verinnerlichte Matrix/Psyche unser Erleben und Verhalten beeinflusst?
Mit diesen thematischen Setzungen sollte gezeigt werden, was uns beim Miteinandersprechen beschäftigte. Aber es ist nicht das, was wirklich passierte.
7 Was passierte – Innensicht
Was wirklich für den einen oder die andere geschah, entzieht sich, bleibt uns fern. All das, was in uns geschieht, sind offene Prozesse, die gebrochen und nicht abgeschlossen sind (Lesmeister, 2017). Aber jeder, der oder die dabei war, erlebte ergreifende, packende Momente an zwischenmenschlichen Begegnungen, die unvergesslich bleiben. Sie stellten die Verbindungen her, die uns Kraft, Glauben, Hoffnung und Liebe gaben (Lesmeister, 2017, S. 187; 1. Kor 13,13).
Immer wieder war es eine Überraschung, dass eigene Gedanken, Stimmungen, absurd erscheinende Einfälle von anderen Teilnehmern ausgesprochen wurden und sich so eine unerwartete Verbindung herstellte. Die Stärke dieser Gegenwartsmomente (Stern, 2014), die ergreifend und numinos sind, haben eine verbindende Kraft (Alder, 2018). Es wurde zum Beispiel gesagt: „Da versteht mich jemand, da fühlt jemand, wie ich. Das hätte ich mir nicht gewagt auszusprechen, aber es ist hier möglich.“ Das förderte Vertrauen, stärkte Sicherheit, ließ selbst Angst kleiner werden. Die in der Gruppenmatrix stattfindenden Interaktionen ermöglichten Erfahrungen für die Teilnehmenden. Wie bedeutsam und bewegend das sein kann, schildere ich im nächsten Abschnitt.
8 Drei Beispiele aus der ersten Trialog-Konferenz
Eine weitere Erfahrung war folgende. In den Kleingruppen stellte sich für einige Teilnehmer schnell eine familiäre Erinnerungsebene her. So war ein deutscher Kollege[i] in seiner Kindheit in einer Atmosphäre von bedrücktem Schweigen aufgewachsen. Nur am Küchentisch wurde vor dem Essen gebetet und dabei des vermissten Onkels gedacht. Später erfuhr er, dass sein zweiter Vorname sich auf den vermissten Onkel bezog. Das hatte er fast vergessen. Jetzt in dieser Gruppensituation fiel ihm diese Familienszene wieder ein. Das Besondere war, dass er die schmerzliche Trauer im Beisein der anderen erinnern und fühlen konnte, was ihm bisher unvorstellbar erschienen war.
Aus der Ukraine wurde von einer Kollegin berichtet, die verwundete Soldaten aus der Ost-Ukraine psychologisch betreute. Junge Männer mit abgetrennter Hand oder zerschossenem Bein sind ebenso real wie die Mütter und Väter, die versuchen, ihre Kinder von dem Krieg zurückzuhalten. Wenn es dann zur unmittelbaren Begegnung im Krieg kommt, kann das Töten im Angesicht des Anderen aufhören, wie bei Reiner Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“ von 1929. So war es auf der Konferenz möglich, durch unmittelbare Begegnung neue Perspektiven zu eröffnen und offensichtliche Wahrheiten infrage zu stellen.
Damit seien drei szenische Erfahrungen skizziert, wie sie sich in vielerlei Gestalt für mehrere Teilnehmende ereigneten.
Wer mehr erfahren möchte, kann hier noch zwei aufregende Szenen aus der zweiten Konferenz lesen, ohne damit nur annähernd die Vielgestaltigkeit des Geschehenen wiedergeben zu wollen.
- Ich bin mit einer Geschichte meiner Großmutter aufgewachsen, begann eine • russische Kollegin. Meine Oma lebte in Stalingrad. Sie hatte zwei Kinder, meine Mutter und meinen Onkel. Sie lebten in der Stadt während der Besatzung. Mein Opa war im Krieg und kehrte 1946 zurück. Im besetzten und umkämpften Stalingrad herrschte starke Hungersnot und sie aßen fast nur Kraut. Ein deutscher Soldat kam zum Haus. Meine Oma gab ihm ein Krautfladenbrot. Er sagte, dass das doch kein Essen sei. Darauf holte er aus seinem Rucksack ein Brot und zwei Fleischkonserven, streichelte die Kinder, zeigte Fotos von seinen Kindern und ging. Krieg ist für alle schlimm. Meine Oma hatte nur geweint.
- Darauf wurde eine zweite Geschichte erzählt, die die Angst vor Mord und Zer• störung am Anderen projizierend festmacht. Eine andere Kollegin aus Russland begann zu sprechen. Die Eltern ihrer Mutter hatten ihr nahegelegt: Heirate, wen du willst, aber keinen Ukrainer und keinen vom Militär. Allerdings und trotz der Warnung heiratete ihre Mutter einen ukrainischen Offizier. Für ihren Opa war das sehr schwer. Er meinte immer wieder, dass Kinder nicht wissen dürften, was er im Krieg gesehen hatte. Sie selber könne darüber nur fantasieren.
- Ein deutscher Teilnehmer meinte daraufhin sehr bewegt, dass er sich gut vor• stellen könne, dass sein Großvater, der an der Ostfront gekämpft hatte, sowohl Häuser und Menschen zerstört habe, als auch sein Brot mit Russen und Ukrainern teilen konnte. Zuvor habe er als Enkelsohn die beiden Seiten seines Opas nie zusammengebracht.
9 Einige Gedanken zum Abschluss, der keiner ist
Wir können mit Dankbarkeit und Freude feststellen, dass trotz einer vom Krieg geprägten Geschichte die russischen und ukrainischen Teilnehmer zu den deutschen Gastgebern so viel Vertrauen hatten, dass sie der Einladung nach Deutschland folgten. Alle Teilnehmer waren offen, sich vor dem Hintergrund der Geschichte eines nationalsozialistischen Deutschlands von 1941 bis 1945 zu begegnen, das neben den Juden einen die Slawen vernichten wollenden Krieg führte. Dieser forderte zum Ende insgesamt über 50 Millionen getötete Menschen, mindestens zwölf (wohl eher zwanzig) Millionen Tote auf sowjetischer Seite im Vergleich zu insgesamt sechs Millionen Toten auf deutscher Seite. Dieses Morden im Kontext eines Weltkrieges war nicht nur dem Hass der Soldaten beim Kampf gegen den Feind und dem Versuch die eigenen Grenzen zu schützen geschuldet.
Hass dient der Verteidigung der eigenen Grenzen und hört auf, wenn der Feind vertrieben ist (De Masi, 2010). Nur mit dem Hinzudenken von sadistisch-perverser Zerstörung wird das gleichgültige Morden beschreibbar. Es ist die gleichgültige Destruktion dem anderen gegenüber, die weiter zerstört. Die Ermordung der europäischen Juden (sechs Millionen), der sowjetischen Kriegsgefangenen von 1941-1945 (3,3 Millionen), was als zweiter Holocaust bezeichnet wird, intrapsychische Kranke (über 200.000), der Sinti und Roma (500.000) und der Homosexuellen (5.000 bis 10.000) folgte ebenfalls dieser perversen Logik.
Heute herrscht ein überwiegend „stiller“ Krieg, zumindest aus deutscher Perspektive, ein Bürgerkrieg in der Ukraine, dem Nachbarland der Europäischen Union, wo Menschen über hunderte von Jahren meist friedlich nebeneinander lebten. Ehen wurden über die ethnischen Grenzen hinweg geschlossen, was heute für viele unmöglich wird. Familien wurden und werden durch den aktuellen Krieg gespalten, Paare zerstört, weil der eine Teil sich der russischen Nation und der andere der ukrainischen zugehörig fühlt.
Das Ringen um die Vereinbarkeit von Hass-Liebe-Destruktion (De Masi, 2010) ohne die Differenzen aufzuheben, durchlief die gesamte erste und zweite Konferenz. Dieses Ringen manifestierte sich in den biografisch geprägten Narrativen. Man kann im Sinne des italienischen Psychoanalytikers De Masi formulieren, dass Liebe verbindet und Hass trennt. Hass tritt aggressiv dafür ein, dass verletzte Grenzen von Menschen und Gesellschaften (Staaten) wiederhergestellt werden (De Masi 2010, 2016). Die anhaltend gleichgültige Destruktion ist ein Zustand, der jede emotionale und erinnernde Verbindung mit einem Anderen zerstört, den anderen quält und dabei seelisch tötet (ebenda).
Wenn wir als Gruppen- und Psychotherapeuten das erleben und reflektieren, zeigt sich eine Kapazität, eine intrapsychischen Kapazität, die die Mächte der Liebe, des Hasses und der selbstgefälligen anhaltend gleichgültigen Destruktion (das Böse) schrittweise lernt zu halten, auszuhalten und letzteres zu begrenzen. Die gut bekannte Alternative ist die Aufspaltung in meist das eigene Gute und das Böse im Anderen. Das begegnet uns auch in Gruppen und Gesellschaften, die von Krieg, dem Kriegsmodus geprägt werden, was Friedman (2018) als Soldatenmatrix beschrieben hat.
Die dritte psychohistorische und gruppenanalytische Trialog-Konferenz hat inzwischen im April 2019, ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden. Zur Folgekonferenz wird in circa zwei Jahren eingeladen werden.
Bei Harry Potter spricht Dumbledore, der Direktor der Zaubererschule, die an eine Schule für Psychotherapeuten erinnert, die zentrale Aufgabe für die Begegnung der drei Schulen aus drei Ländern mit den Worten aus: „Ziel des Trimagischen Turniers war es, das gegenseitige Verständnis unter den Magiern verschiedener Länder zu fördern. Im Lichte dessen, was geschehen ist – der Rückkehr Lord Voldemorts –, sind partnerschaftliche Bande wichtiger denn je“ (Rowling, 2000, S. 755).
Das gilt auch für uns. Die todbringende Zerstörung ist mit der Romangestalt für das Böse, Lord Voldemort, in der Romanserie Harry Potter (Rowling, 2000) sehr anschaulich gestaltet worden. Das Böse ist immer da, im Verborgenen, im anderen, in uns selbst oder im öffentlichen Raum. Deshalb sind „partnerschaftliche Bande“, auch als Teil des ärztlich-psychotherapeutischen Handelns zwischen uns Menschen lebenswichtig.
[i] Ich danke den Kolleg/innen für ihre Erlaubnis, ihre Erfahrungen für meinen Bericht zu nutzen.
Literatur
Alder, M.-L., Buchholz, M. B. (2017). Trialog. Beobachtungen einer Konferenz der Begegnung ukrainischer, russischer und deutscher Psychotherapeuten. http://hdl.handle.net/20.500.11780/3771
Alder, S. (2018). Das Geheimnis der Begegnung im therapeutischen Prozess. In S. Alder, K. Färber (Hrsg.), Das Geheimnis in der Psychotherapie (S. 35-54). Gießen: Psychosozial.
De Masi, F. (2010). Die sadomasochistische Perversion. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 23. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog.
De Masi, F. (2016). Liebe und Perversion: Eine unmögliche Verbindung. In A. Ebrecht-Laermann, E. Löchel, B. Nissen, J. Picht (Hrsg.), Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 72 (S. 103-124). Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog.
Foulkes, S. (1992). Gruppenanalytische Psychotherapie. München: J. Pfeiffer.
Foulkes, S. H. (1964/2007). Therapeutic Group Analysis. London: Karnac.
Friedman, R. (2018) Die Soldatenmatrix und andere psychoanalytische Zugänge zur Beziehung von Individuum und Gruppe. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Lesmeister, R. (2017). Begehren, Schuld und Neubeginn. Kritische Analyse psychoanalytischer Konzepte im Anschluss an Jacques Lacan. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rowling, J. K. (2000). Harry Potter und der Feuerkelch (Band 4). Hamburg: Carlsen.
Stern, D. N. (2014). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.
Volkan, V. (2000). Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Volkan, V. (2015). Großgruppenidentität, schweres Trauma und seine gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. In S. Walz-Pawlita, B. Unruh, B. Janta (Hrsg.), Identitäten (S. 111-130). Gießen: Psychosozial-Verlag.
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